Unser politisches System befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel. Das Prinzip der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie beruht darauf, komplexe Entscheidungen und die Interessen unterschiedlicher Gruppen durch gewählte Volksvertreter abwägen zu lassen. Das funktioniert nur, solange alle Beteiligten die so getroffenen Entscheidungen respektieren.
Aktuell sind jedoch die Signale für die Erosion der Strukturen unserer repräsentativen Demokratie unübersehbar. Einerseits erleben wir weitgehende Verweigerung der Teilnahme an Wahlen auf allen politischen Ebenen und politisches Desinteresse. Andererseits beobachten wir immer wieder geradezu explosionsartig anwachsende Bürgerproteste, die zu scharfen Konflikten führen und unsere aktuellen politischen Strukturen und Akteure überfordern. Offensichtlich haben die politischen Institutionen Legitimierung und Handlungsspielraum verloren.
Zunehmend wird es für unsere politischen Eliten schwieriger, häufig sogar unmöglich, aus einer Kakophonie von Partikularinteressen und Lobbyismus sinnvolle, zukunftsfähige und gesellschaftlich akzeptierte Politik zu entwickeln. Die Einflüsse des institutionellen Lobbyismus von Unternehmen und Verbänden sind bekannt. Neu dazu gekommen ist in den letzten Jahren immer stärker auftretender Bürgerlobbyismus. Es sind plötzlich auftretende Protestbewegungen, die binnen weniger Wochen eine ungeheure Wucht entfalten können. Ihr Ziel ist fast immer die Verhinderung politischer Gestaltung. Dabei können sie politisch eher links oder rechts verortet werden. Sie können eher selbstlose politische Ziele vertreten, doch häufig betreffen sie auch rein subjektive Interessen der Betroffenen. Sie können auf einen engen lokalen Bezug reduziert werden oder die vermeintlichen Interessen einer bundesweiten gesellschaftlichen Gruppe widerspiegeln. Egal ob es um Proteste gegen Bahnhöfe, Windräder, Stromleitungen, Flüchtlinge oder den Euro geht: Repräsentative Politikkonzepte, die davon ausgehen, dass demokratisch gewählte politische Eliten in der Lage sind, sämtliche für die Gesellschaft wichtigen Entscheidungen zu treffen, die anschließend auch eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung finden, funktionieren nicht mehr.
Das Prinzip des „Erst entscheiden, dann kommunizieren“ hat sich überlebt. Die Bürgerinnen und Bürger wollen sich nicht mehr mit der bisherigen Arbeitsteilung der repräsentativen Demokratie zufrieden geben. Diese Bürgerinnen und Bürger als „Wutbürger“ zu bezeichnen, ist populär, wird jedoch der Tiefe des Konfliktes nicht gerecht. Es stimmt: Häufig ist der Auslöser für das Engagement unmittelbare persönliche Betroffenheit. Nicht selten geht es um die Verhinderung von Projekten, die die eigene Lebensqualität einschränken. Stets ist aber die Frustration über einsame Entscheidungen von „denen da oben“ ganz wesentlich für die häufig stürmische Eskalation der Proteste verantwortlich.
Doch es ist beileibe nicht so, dass die Bürgerinnen und Bürger sich frustriert von der Politik abgewandt haben und nur dann in Bewegung kommen, wenn sie persönliche Nachteile befürchten: Zu Infrastrukturprojekten wie neuen Straßen, Kraftwerken oder Stromtrassen wünschen sich 89% der Bürger mehr Mitsprachemöglichkeiten. Dies geht aus einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid im Auftrag der Bertelsmann Stiftung hervor. Die Bereitschaft der Bürger, sich während der Planungsphase eines Infrastrukturprojekts zu engagieren, ist hoch. Jeder zweite Bürger kann sich vorstellen, sich intensiv mit dem Projekt zu beschäftigen. Für ein Drittel der Befragten ist es sogar denkbar, sich über einen längeren Zeitraum zu engagieren. Die Bürgerinnen und Bürger wollen sich also durchaus an der Gestaltung unserer Gesellschaft beteiligen. Sie fordern diese Beteiligung allerdings direkt und unmittelbar ein. Kein Wunder also, dass neue Formen politischer Willensbildung entstehen. Bürgerbeteiligung ist dabei nur ein Sammelbegriff für völlig unterschiedliche Formate und Prozesse. Und nicht alle Erfahrungen mit Bürgerbeteiligung sind ausnahmslos positiv. Immer wieder stoßen Anbieter von Beteiligung entweder auf Desinteresse oder umgekehrt auf ein bereits politisch vergiftetes Klima, das den Prozess unkontrollierbar eskalieren lässt. Auf der anderen Seite haben gerade kritische Konfliktparteien oft große Vorbehalte und wähnen eine „Mitmachfalle“.
Wenn solche Beteiligungsprozesse scheitern, dann oft, weil die Beteiligung erst dann beginnt, wenn ein ursprünglich geplantes Projekt mit unerwartetem Widerstand konfrontiert wird. Beteiligung, die zu spät erfolgt, hat einen schweren Stand. Aber auch frühzeitige Beteiligung wird nicht automatisch erfolgreich sein, wenn sie nicht alle vier Dimensionen gelingender Bürgerbeteiligung berücksichtigt.