Das Buch „Beschädigte Vegetation und sterbender Wald“ ist Umweltbuch des Monats November 2012. „Es ist nicht die Umwelt, die ein Problem mit ihrer Veränderung … hat, sondern die Menschen, die in ihr leben. Umweltprobleme sind daher Konstrukte, die auf gesellschaftlicher Kommunikation über bestimmte, in der ‚natürlichen Umgebung‘ des Menschen beobachtete Phänomene beruhen“.
Auf Basis dieser Grundannahme beschreibt und erklärt Martin Bemmann, wie und warum sich die Interpretation ein und desselben Phänomens im Laufe eines Jahrhunderts änderte – nein, ändern musste. Wann wurden immissionsbedingte Schäden an der Vegetation und insbesondere am Wald erstmals beobachtet und als Problem erkannt? Wie veränderte sich die Problemsicht darauf und warum? Wer beschäftigte sich damit und aus welchen Gründen? Und ab wann sah man in diesen Schäden ein weitreichendes, ernsthaftes Umweltproblem?
Am Beispiel von fünf Debatten zwischen Kaiserreich und früher Bundesrepublik Deutschland untersucht der Autor, wie und warum es zu einem Wandel kam, und wie dieser in den sozioökonomischen, politischen und ideologischen Wandlungsprozess der deutschen Gesellschaft eingebettet ist. Erst wenn beobachtete Phänomene, so der Autor, als Umweltprobleme interpretiert werden, wird Umweltpolitik zu deren Lösung erforderlich, wird einer Umweltbewegung ein Tätigkeitsfeld eröffnet. Nur wer weiß, dass ein Phänomen real existiert, kann dieses als ein Problem interpretieren. Das Dilemma aber ist, dass das, was jemand für ein Problem hält, noch lange nicht von jemand anderem oder gar von der Mehrheit der Gesellschaft als solches angesehen und anerkannt werden muss.
Die Fähigkeit, ein beobachtetes Phänomen als Umweltproblem zu interpretieren, bedarf allerdings gewisser Kapazitäten, die ökonomischer, wissenschaftlicher oder politischer Art sein können. Der Autor negiert solche Kapazitäten nicht, doch ihm geht es zuerst und vor allem um die gesellschaftlichen Kommunikationsprozesse, die bestimmte neue Deutungs- und Argumentationsmuster hervorbringen, die eine Interpretation beobachteter Phänomene als Umweltprobleme ermöglichen. Auf Basis dieses Grundverständnisses (dieser Theorie) hat der Autor den wohl begründeten Untersuchungszeitraum (1893 bis 1970) gewählt, der zwei starke symbolische Eckwerte hat. Der Beginn (1893) ist durch die Publikation eines Buches über immissionsbedingte Waldschäden bestimmt, das im Rahmen eines Gerichtsprozesses entstand und eine heftige, mehrjährige Kontroverse auslöste: Der „Monstre-Prozess“ in Oberschlesien war der Beginn der ersten Debatte in Deutschland, die nicht auf den unmittelbar beteiligten Personenkreis begrenzt blieb, sondern gesellschaftlich relevant wurde. Der Endpunkt (1970) ist in anderer Weise symbolhaft: In diesem Jahr fand in Essen eine Tagung über immissionsbedingte Waldschäden statt, auf der die anwesenden Experten ihr Untersuchungsfeld erstmals explizit als Umweltproblem und damit als gesellschaftlich relevantes Thema definierten. Sie erklärten ihre Arbeit zu einem Teil des kurz zuvor ‚erfundenen‘ Umweltschutzes.
Wer sich auf diese voluminöse, theoretisch begründete, empirisch belegte und zugleich sorgfältig dokumentierte Studie von Martin Bemmann einlässt, wird reich belohnt und viele (solcher und ähnlicher) Überraschungen erleben. Spannend ist zum Beispiel die Frage, warum die Waldsterbensdebatte in Deutschland – trotz aller historischen Vorkommnisse und Vorkenntnisse – erst zu Beginn der 1980er Jahre begann.
Im JAHRBUCH ÖKOLOGIE 1992 (S. 292-307) hat Hans-Jochen Luhmann die Frage ein wenig anders gestellt und so beantwortet: „Warum hat nicht der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU), sondern der SPIEGEL das Waldsterben entdeckt?!“.
Martin Bemmann: Beschädigte Vegetation und sterbender Wald
Zur Entstehung eines Umweltproblems in Deutschland 1893 – 1970
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 540 Seiten, 13 Abbildungen, 69,99 Euro
ISBN: 978-3-525-31710-5