Lothar Frenz beginnt sein Buch mit einem Zitat des ‚Vaters der Biodiversität‘, Edward O. Wilson: „Jede Art lebt – und stirbt – auf ihre ureigene, einmalige Weise“. Darum geht es ihm: Er will Leben und Tod einer Reihe jener Arten vorstellen, die wir verloren, eben erst verpasst haben, die erst seit gestern – in den fünfhundert Jahren seit Christopher Kolumbus – nicht mehr auf der Erde sind.
Wie haben diese Tiere gelebt, warum sind sie nicht mehr da, wieso sind sie erst in jüngster Zeit und nicht schon früher verschwunden, was geschah, nachdem sie verschwunden waren? Es geht ihm dabei um große und um kleine Tiere, um ökologisch signifikante Tiere und solche, deren Verschwinden ohne große Auswirkungen blieb, um vermeintlich nützliche aber auch um weniger nützliche Tiere. Dazu steigt er ein in die Erdgeschichte, die Lebensgeschichte vieler Tier- und Pflanzenarten, von Landschaften, Regionen und Kontinenten. Er trifft dabei auf Einzel- wie auf Inselschicksale, aber auch auf komplexe und globale Phänomene. Und staunt am Ende selbst darüber, wie viel wir über das Verschwinden von Arten schon wissen – und wie viel wiederum nicht.
Der Prolog beginnt mit dem Beispiel der Takahe, dem Popstar der Vogelwelt Neuseelands, dessen Zahmheit ihm beinahe den Artentod beschert hätte, den weitsichtige Naturschützer aber auf die Insel Kapiti brachten, wo keine Raubfeinde lauerten. Der Hauptteil beginnt dann mit der Wandertaube Nordamerikas, der letzten des seinerzeit häufigsten Vogels der Erde, die , exakt dokumentiert, am 1. September 1914 im Alter von 29 Jahren verschied, nachdem kommerzieller Raubbau und effektive Schlächterei der Taubenjäger den Niedergang der Spezies bewirkt hatten. Wenn die Schwärme der Wandertauben die Sonne verdunkelten, begann das große Schießen. Doch die letzte ihrer Art nannte man liebevoll Martha – nach Martha Washington, der ersten First Lady der USA.
Nicht alle der folgenden Kapitel sind ähnlich spektakulär, doch sie sind alle spannend erzählt: die Geschichte des kalifornischen Kondor oder des Elfenbeinspechts, die des Pyrenäen-Steinbocks, der verschwand, weil die Regierung zu spät handelte, zu dem nun aber Klonversuche laufen. Eine der drei Unterarten des Auerochsen kam vor über 250 000 Jahren in Europa an, nach der letzten Eiszeit waren sie fast auf dem ganzen europäischen Kontinent heimisch. Der Auerochse war wie für Helden geschaffen: Siegfried erschlug in der Nibelungensage nicht nur dem Drachen, sondern „der Ure vier“. Doch seine Stärke nutzte dem Wildrind nichts: Im 5. Jahrhundert verschwand es aus Spanien, im 12. Jahrhundert aus England und Norddeutschland. Dieser Rückzug war nicht nur eine Folge der Jagd, sondern auch der einsetzenden Waldrodung, die das Rückzugsgebiet zerstörte. Auf Funk Island im Nordatlantik liegt der Hauptfriedhof einer ganzen Spezies, des ‚Geirfugl‘, der Riesenalke. Hier spielt ein Teil der Geschichte, die es vermag, Tränen des Mitleids selbst aus einem steinernen Herzen zu wringen (Symington Grieve): in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann die gewerbliche Nutzung der Alke, die zu ihrer Ausrottung führte.
Frenz führt uns auch durch Asien, Afrika, Südamerika und Australien, beschreibt das Verschwinden der Riesenseekuh, der chinesischen Flussdelfine, der vietnamesischen Java-Nashörner, des südafrikanischen Blaubocks, des Nördlichen Breitmaulnashorns – und das Rätsel der Quaggas. Chroniken des angekündigten Aussterbens nennt er das Kapitel über Südamerika. Er begibt sich auf eine Entdeckungsreise mit Charles Darwin (insbesondere Galapagos), die den Glauben an die biblische Schöpfungsgeschichte ins Wanken brachte – damit aber auch das Aussterben von Spezies zu einem denkbaren Konzept machte. Dieses Kapitel ist voller interessanter Details und endet beim Thema ‚Zweihundert Jahre Einsamkeit‘, der menschelnden Geschichte um „Lonesome George“, die Riesenschildkröte, die zur Naturschutz-Ikone, zum lebenden Symbol ausgerotteter Spezies wurde. Auf der Reise durch Australien und Neuseeland begegnen uns die Osterbilbys, der Tasmanische Tiger und die Moas, auf der Insel Mauritius der fette, flugunfähige Dodo, den die holländischen Seefahrer verzehrten, der aber erst durch Lewis Carrolls Novelle ‚Alice im Wunderland‘ weltbekannt wurde, als er schon längst ausgestorben war.
Lothar Frenz beendet sein Buch über das Verschwinden von Arten mit einem Blick auf die Prognosen des Weltklimarates. Wenn das Klima sich wie erwartet ändert, könnten schon bis 2050 eine Million landlebender Tier- und Pflanzenarten mehr vom Aussterben bedroht sein als heute – je nach Grad der Erwärmung zwischen 15 und 37 % aller Spezies. Er macht daraus kein politisches Plädoyer, er glaubt an die Kraft seiner Argumente und: seiner wunderbaren, einfühlsamen Geschichten über die Welt, wie sie einmal war. Das letzte Bild seines Buches ist der Pizzly oder Grolarbär, dem das Eis unter den Füßen wegschmilzt, die letzte Literaturempfehlung das Buch von Edward O. Wilson, das mit einem Fragezeichen endet: „Das Ende der biologischen Vielfalt?“
Lothar Frenz
Lonesome George oder Das Verschwinden der Arten
Berlin: Rowohlt Verlag 2012, 350 Seiten.
ISBN: 978-3-87134-738-2