„Das wichtigste Buch des Jahres“ hat es die taz genannt. Ich setze noch einen drauf: Das wichtigste Buch seit langem. Doch Obacht: Ein Text, der – leicht geschrieben – es uns schwer macht. Der seine Leserinnen und Leser zwingt, sich auch mit sich selbst auseinanderzusetzen.
Der Autor, Sozialpsychologe, Direktor der Stiftung für Zukunftsfähigkeit Futur Zwei, hält der Umwelt- und Nachhaltigkeitsbewegung einen unerbittlichen Spiegel vor. Sie sei utopie- und geschichtslos, technikgläubig und mit ihrer Versessenheit auf Effizienz und allein auf Klimaschutz laufe sie gar Gefahr, die Probleme noch zu vergrößern. Wie das? Entscheidendes Problem sei der völlig übermäßige Ressourcenverbrauch, der „Extraktivismus“. Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz bedeuteten aber zunächst einmal mehr Aufwand, mehr Ressourcen, für Passivhäuser, Elektroautos, Energiesparbirnen oder AAA+-Kühlschränke, die die alten noch funktionstüchtigen ersetzen (S. 110ff). Der Extraktivismus ließe sich also nicht zuerst durch neue Produkte, sondern nur durch die Reduktion von Verbrauch bekämpfen (S. 125). Deshalb werde die Energiewende auch nur dann nachhaltig umgesetzt, wenn wir uns zugleich von der Kultur des „ALLES IMMER“ verabschiedeten.
An dieser Stelle rät Welzer zum selbst denken. Die ökologische Frage sei zu sehr auf eine naturwissenschaftlich-technische vereinseitigt worden („eine der fatalsten Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte“, S. 133). Die Frage aber, wie wir leben wollen, sei eine soziale und kulturelle (S. 134). So plädiert er dafür, sich wieder an Utopien zu trauen (S. 136 ff) und Zukunft als Versprechen, denn nur als Bedrohung zu begreifen (S. 7ff). Umkehr statt bloß Korrektur sei gefragt. (S. 29). Wichtig findet er aber, sich für die Alternativentwürfe der „Zivilisierung durch weniger“ (S. 138) Zeit zu geben und auch Umwege und Irrwege in Kauf zu nehmen. Nicht die Effizienz könne daher handlungsleitend sein, sondern Achtsamkeit und Resilienz, um ein „permanentes Lernen in einer Umgebung, die in ständiger Veränderung begriffen ist“, zu ermöglichen (S. 139).
Damit ist nur der Hauptargumentationsstrang dieses Buches skizziert und noch nichts zu den vielen interessanten und wichtigen Seitenaspekten gesagt, wie z. B. zu der Frage, wie uns der Konsumismus entmündigt (S. 15 ff) und wir das zulassen; oder warum es kritischen Konsum gar nicht geben kann (S. 79), oder warum wir so fasziniert sind von der Vorstellung unendlicher erneuerbarer Energieströme (weil wir die Endlichkeit des Lebens nicht akzeptieren, S. 208 ff). Und noch nichts dazu, warum die neue Kultur des Weniger unbequem sein kann, die Bereitschaft braucht, sich selbst zu deprivilegieren (S. 222) und eingeübt werden muss (S. 226 ff. ), oder warum zu viel Wissen ein Denkhindernis sein kann (S. 240).
Im letzten Teil des Buches stellt Welzer etliche Menschen, Initiativen, Projekte, Unternehmen vor, die das Neue schon im Alten wagen – von den Schönauer Stromrebellen, über die GLS-Bank bis hin zu den Yes Men. Und was gibt uns der Autor an „Anleitung zum Widerstand“ mit auf den Weg? Dazu heißt es unter anderem: „Soziale Bewegungen werden mächtig, wenn ihre Träger nicht aus Subkulturen kommen, sondern aus allen gesellschaftlichen Schichten“ (S. 285). Dann aber reiche eine kritische Masse von nur wenigen Prozenten, um die Mehrheit merklich zu beeinflussen.
Harald Welzer: Selbst denken. Anleitung zum Widerstand
Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2013, 329 S., 19,99 €
ISBN 978-3-10-089435-9